Der Stegreif-Organist von Fürstenwalde
Artikel aus der Märkischen Oderzeitung
Etwas noch einmal zu spielen, zu wiederholen – das sei ein absolutes Tabu. Wenn es um das Stegreif-Spiel geht, kennt Matthias Dörfer keine Gnade. „Man weiß davor nicht, was man spielen wird“, sagt er. Man setzt sich an ein Instrument, sucht sich einen Ton und umkreise ihn mit anderen Tönen, Akkorden, Rhythmen. So entsteht ein einmaliges Werk, das sich nie wiederholen lässt. Eigenen Recherchen nach ist Matthias Dörfer der einzige Stegreif-Organist in Deutschland, der mit dieser besonderen Art zu spielen, öffentlich auftritt.
Viele Berufsmusiker würden die Situation eines Verspielens vor Publikum scheuen, nennt Dörfer einen Grund. „Beim Stegreif-Spielen gehört das Verspielen aber dazu – daraus macht man etwas Neues, etwas Schönes“, erklärt der Organist, der in diesem Augenblick auf der Empore der Kirche in Fürstenwalde-Süd sitzt.
Trancegefühl, das die Seele auf die Hände überträgt
„Das ist eine sehr warme Orgel, die spiele ich sehr gerne“, sagt er und beginnt. Zunächst ertönen langsame, dunkle Töne. Jede Veränderung, jeder Tempowechsel, der dann folgt, überrascht. Doch wer nicht weiß, dass hier keine vorgegebene Melodie gespielt wird, merkt es nicht. Energisch trippeln Dörfers Füße in Socken über die Pedale, er rutscht auf der Orgelbank hin und her, spielt das obere Manuale, immer schneller und schneller. Harmonisch, voller Leidenschaft, und dennoch wirkt Dörfer durchgehend hochkonzentriert.
„Je länger man spielt, umso mehr gerät man in die Musik hinein.
Das ist schon eine Art Trancegefühl“, sagt Dörfer, nachdem der letzte Ton aus den Orgelpfeifen verhallt ist. Manchmal spiele er stundenlang. „Es ist, als ob die Seele aus dem Kopf übertragen wird auf die Hände“, sagt der Musiker.
Per Mausklick zur Orgelauswahl
Der technische Fortschritt macht es ihm relativ leicht. Zu Hause steht die Orgel, auf der er am liebsten spielt. Es handelt sich um zwei Computer mit fünf Manualen und Pedalen sowie Software, die es Dörfer ermöglicht, verschiedene Orgeln in aller Welt zu spielen. Ein Mausklick und „die Orgel“ wird heruntergeladen.
Doch wie kam Matthias Dörfer überhaupt zum Stegreif-Spiel?
Es ist 15 Jahre her, dass er sich nach einer längeren Pause wieder an eine Kirchenorgel setzte und darauf spielte. „Da habe ich das Stegreif-Spiel entdeckt“, sagt der Organist. „Ich wusste damals gar nicht, dass das so heißt. Ich dachte, das sei Improvisation.“ Doch dass Stegreif und Improvisation nicht das Gleiche sind, steht für Dörfer fest. Bei der Improvisation hat man ein bestehendes Werk vor sich, man spielt eine Abwandlung oder Erweiterung, erklärt er. Und beim Stegreif eben nicht. Für ihn sei Letzteres „die höchste Orgelkunst, die es gibt“, sagt Dörfer. Johann Sebastian Bach habe so gespielt.
Musik begleitet ihn seit jungen Jahren
Seit der Kindheit ist Matthias Dörfers Leben von Musik geprägt. Aufgewachsen in einem Pfarrhaus in Briesen bei Cottbus hatte er stets Zugang zu einer Orgel. Die Kirche stand direkt gegenüber dem Elternhaus, manchmal saß der Junge dort bis in die Nacht an der Orgel und versank in den Melodien und Tönen ihrer Pfeifen. Am Konservatorium gesellten sich zu Klavier, Orgel und Flöte noch Fagott und Trompete. Heute ist Matthias Dörfer in Fürstenwalde zu Hause – und hat nur noch Augen für „die Königin der Instrumente“.
Bevor er sich vollends dem Stegreif-Spiel verschrieben hat, arbeitete der gelernte Heilerziehungspfleger knapp 25 Jahre lang mit Schwerstbehinderten, setzte sein musikalisches Können auch dort hin und wieder ein, bot Musiktherapie an. Doch nun liegt Dörfers ganzer Fokus auf dem Stegreif-Spiel. „Ich kann mich nicht mehr an Noten festhalten“, sagt er. Er wolle seine Kreativität nicht verlieren. Und sein Ziel sei es, dieses einem breiteren Publikum bekannt zu machen. Dafür lässt Dörfer auf seiner Homepage 24 Stunden lang ein Orgelradio laufen, dass seine Variationen abspielt. Und er gibt Konzerte – aber nur in Kirchen. Da spiele seine Kindheit sicherlich eine Rolle, gibt er zu. „Kirchenmusik ist ein Geschenk Gottes, die er uns Menschen gegeben hat – dafür kann ich nichts verlangen“, erklärt er, warum der Eintritt zu seinen Konzerten frei ist. Und nach kurzem Innehalten wendet er sich erneut der Orgel zu und beginnt zu spielen – aus dem Stegreif.
Stegreif – von vielen fälschlicherweise „Stehgreif“ geschrieben –
ist laut Gesellschaft für deutsche Sprache eine veraltete Bezeichnung für Steigbügel. Die Redensart „aus dem Stegreif“ bezieht sich somit auf „etwas vortragen, ohne vom Pferd zu steigen“ – auf die heutige Zeit übertragen bleibt nach wie vor die Bedeutung: etwas ohne Vorbereitung tun.
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Einträge aus dem Gästebuch
MD(Montag, 16 Oktober 2023 08:07)
Danke für dfas wundervolle Konzert gestern in der Briesener Kirche. Die Gedanken wurden ganz ruhig, Bilder entstanden im Kopf. Nicht nur brim zweiten meditativen Stück. So etwas habe ich noch nie gehört. Besonders hat mich auch beeindruckt, daß die Stücke so ruhig endeten, kein großer Schlußakkord. Da hört man mit dem Träumen einfach nicht auf.
Auf jeden Fall komme ich wieder zu einem Ihrer Konzerte und ich setze mich dann auf die Empore, um Ihnen beim Spiel zuzuschauen.
Aber bitte bltte spielen Sie auch in Zukunft nur auf der jeweiligen Orgel und "verfremden" Sie den Klang nicht mit computergesteuerten Klängen. Wenn ich eine Orgel aus dem Freiberger Dom hören möchte, dann fahre ich dahin und höre sie dort.
Adina Oppitz(Tuesday, 27 September 2022 10:20)
Aus dem Stegreif Hohndorfer Kirche
Spontan war mein Besuch des Orgelkonzerts am 11. September ja nicht. Schon lange hatte ich die Anzeige im Gemeindebrief gelesen - Orgelmusik ohne Noten. Ein Spiel mit der Königin" - hieß es da. Eine konkrete Vorstellung hatte ich nicht. Doch gerade diese Unwissenheit machte mich neugierig.
Und so ließ ich mich darauf ein. Ich nahm auf der Empore Platz, denn ich wollte den Organisten sehen und bewundernd auf seine flinken Finger schauen. Matthias Dörfer beeindruckte mich, da er selbst so gar nicht auffallend war Jeans, Kapuzenpulli und kleine Brille. schwarzer
Er ließ der Königin" die Ehre und lud uns alle auf eine Reise ein. Eine Reise, wie sie nur die Orgel vermag, denn sie geht nicht nur ins Ohr, sondern ergreift dich ganz.
Und so hatte ich das Gefühl, als würde mir unsere Orgel in den ersten 30min vorgestellt. Der Organist machte uns bekannt und führte mich mit allen Facetten von Klängen und Tönen vorsichtig in eine innere Welt. Es wurden keine einzelnen Stücke gespielt und dennoch bildeten kurze bekannte Sequenzen Vertrauen.
Nach diesem Einstieg folgte der zweite Teil. Doch der Organist fragte nicht,
was er spielen soll, sondern wie lange. Das Publikum wünschte sich 30min. Ich selbst hatte die Zeit vergessen. Und wollte ich am Anfang noch alles genau beobachten, so hatte ich jetzt das Bedürfnis, die Augen zu schließen.
Eine Melodie reihte sich an die andere und aus einem Klang erwuchs ein neuer. Die Kunst lag darin, keine Tonfolgen zu erwarten, sondern sich genussvoll treiben zu lassen.
Am Ende stand kein gewaltiger Schlussakkord. Mit leisen Tönen wurde ich sanft geweckt.
Eine Massage für die Seele.